Die Zypresse in der HeilKUNST – von Olaf Rippe, erschienen in Stayinart

Lebensbaum und Symbol des Todes

Künstler malen gerne Pflanzen und wenn dies beispielsweise ein Vincent van Gogh macht, dann dient dies sicher keinen dekorativen Zwecken – vielmehr ist es kreatives Hineintasten in eine multidimensionale belebte Welt. Durch die Kunst wird das Unsichtbare sichtbar und das verborgene Wesen der Natur wird uns offenbart. Künstler können uns durch ihre Bilder die besonderen Heilkräfte von Pflanzen nahebringen, denn Form, Gestalt und Farbe sind als Signaturen Schlüssel zur Heilmittelerkenntnis. Gleich einer geistigen Arznei kann das Malen einer Pflanze heilend wirken, wenn sich der Künstler dabei seelisch berühren lässt. Dann kann selbst das Betrachten heilend sein, was »große Kunst« auszeichnet.

In unserer reduktionistisch und materialistisch geprägten Weltsicht ist für solche Anschauungen leider nicht mehr viel Platz. Hier zählt nicht das mythische und kunstvolle Wesen einer Pflanze, sondern das Wirkprofil der Substanz. Im Falle der Zypresse wären das wohl die ätherischen Öle, gemischt mit Gerb- und Bitterstoffen, mit einer entzündungswidrigen und entkrampfenden Wirkung, je nach Pflanzenteil und Zubereitung. Diese Sichtweise ist sicher nützlich und sie mag wissenschaftlichen Kriterien genügen, doch damit offenbart sich nur ein Bruchteil des möglichen Wirkungsspektrums. Um die Heilwirkungen einer Pflanze umfassend zu verstehen, bedarf es wesentlich mehr. Vor allem braucht es einen sinnlichen Zugang. Der balsamische Duft von Zypressen lässt sich nicht im Labor erleben, wohl aber an einem Sonnentag in der Toskana und die Formschönheit einer Pflanze erschöpft sich nicht in einer chemischen Formel.

Farbe und Form der Zypresse sind einzigartig und es bedarf das Auge des Künstlers, um diese Vielschichtigkeit zu zeigen. Van Gogh schrieb in einem seiner Briefe: »In den Linien und in den Proportionen sind sie (die Zypressen) schön wie ein ägyptischer Obelisk. Und das Grün ist von so vornehmer Art. Es ist der schwarze Fleck in der durchsonnten Landschaft, doch ist es einer der interessantesten und am schwersten zu treffenden schwarzen Töne, den ich mir vorstellen kann. Denn man muss sie hier gegen das Blau sehen, besser gesagt im Blau.« (Eva Schumann: Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd IV, S. 293). In den dunklen Tönen der Zypresse, im Kontrast zu den sonnendurchfluteten Ockerfarben der Landschaft, zeigen sich Licht und Finsternis auf okkulte Weise. Das schwarze Grün der im Wind bewegten Zypresse gleicht düsteren Flammen, die in wellenartigen Bewegungen gegen den lichten Himmel züngeln und geisterhaft erscheinen ihre schlanken Gestalten.

http://www.metmuseum.org/art/collection/search/436535

Vincent van Gogh, Weizenfeld mit Zypressen, 1889, Öl auf Leinwand, 73 x 93,4 cm, The Met Museum, Geschenk der Annenberg Foundation, 1993

Vincent van Gogh konnte mit seiner spachtelartigen Maltechnik die Bewegungsmuster und das lebendige Wehen des Windes in den Zypressen auf einzigartige Weise wiedergeben. Konzentriert man sich nur auf die einzelnen Farbflächen, erscheinen plötzlich geisterhafte Schatten aus dem scheinbaren Nichts. Max Ernst soll diese Bilder sehr geschätzt haben und vielleicht suchte er deswegen nach besonderen Maltechniken wie der Décalcomanie, die dem assoziativen Zufall Raum geben, was Van Gogh allein durch seinen einzigartigen Pinselduktus im Spiel von Licht und Schatten erreichte.

Die Polarität von Licht und Dunkel, aber auch die dynamische Bewegung im Gegensatz zur klaren Form, entspricht durchaus auch dem Charakter van Goghs. Wie Emile Zola anmerkte, ist ein Kunstwerk ein Stück der Schöpfung, gesehen durch ein Temperament. Bei Van Gogh ist dies eine ekstatische Begegnung mit der Natur und dadurch mit sich selbst. Deswegen wundert es nicht, dass er sich vor allem während seines Aufenthalts in der Nervenheilanstalt Saint Rémy voller Zuversicht mit der Ästhetik der Zypresse auseinandersetzte. Die Zypresse zeigte sich ihm als trostvoller Helfer nach durchwachter Nacht.

Die Zypresse gleicht einer Lichtsäule zwischen Himmel und Erde. Sie ist ein Tor zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, zwischen Licht und Finsternis. Die Polarität von Leben und Tod begegnet uns ständig im Bildmotiv der Zypresse, so auch in dem Gemälde »Die Verkündigung Mariae« von Leonardo da Vinci und Andrea del Verrochio. Wir sehen eine überraschte Maria, die ganz in ihre Studien vertieft gewesen war, und keineswegs muss es sich bei dem Buch um die Bibel handeln, noch dazu, wenn als Lesepult ein Sarkophag dient. Gabriel, den man traditionell dem Mond zuordnet, kniet auf einer Wiese voller weißer Blumen und hält in seiner linken Hand, der Herzseite, eine Madonnenlilie. Sie verkörpert mit ihrem Weiß die vollkommene Reinheit und die lunaren Kräfte, die für die Fruchtbarkeit zuständig sind – schließlich wird Maria die Empfängnis durch den heiligen Geist verkündet. Gleichzeitig versinnbildlicht die Madonnenlilie den Stein der Weisen. Ihre Blüte setzt sich aus zwei gleichseitigen Dreiecken zusammen, die zusammen ein Hexagramm ergeben, das Symbol für die Vereinigung der Gegensätze von Feuer und Wasser, männlich und weiblich

Leonardo da Vinci und Andrea del Verrocchio, Die Verkündigung Mariae, 1472–1475, Öl und Tempera auf Pappelholz, 98 × 217 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz

Mit der Geburt sind jedoch auch der Leidensweg des Menschen und sein Sterben verbunden. Deutlich wird dies durch die sehr in schwarz gehaltenen Zypressen im Hintergrund, die zwar von einer Gartenmauer abgeschirmt sind, zu denen aber eine Öffnung hinführt. Es ist die Botschaft  »memento mori«, denn das Kreuz Christi wurde aus Zypressenholz gezimmert.  Dabei offenbart sich eine weitere Heilwirkung der Zypresse. In den Momenten höchster Schwäche und Verzweiflung wirkt diese als Heilmittel belebend und als Seelenbalsam, wenn Schicksalhaftes einen quält. Hier können ein Bad in einer Abkochung von Zypressenlaub oder Elixiere zur innerlichen Einnahme die notwendige Willenskraft zum Weiterleben zurückgeben. Hildegard von Bingen schrieb in ihrem Werk Physica: »Wer schwach ist oder sogar am ganzen Körper ermattet, der koche Zweige mit Blättern in Wasser und der nehme in diesem Wasser ein Bad, und er nehme es oft, und er wird geheilt werden und seine Kräfte wiedererlangen.

Doch wie und warum wurde die Zypresse zum Sinnbild des Todes und Symbol der Trauer? Davon erzählt der römische Dichter Ovid in seinem literarischen Meisterwerk »Metamorphosen«: Ein Jüngling namens Cyparissus hatte als besten Freund einen zahmen Hirsch mit goldenem Geweih. Eines Tages tötete er jedoch aus Versehen mit seinem Speer das geliebte Tier. »Als er ihn an der bösen Wunde sterben sah, beschloss auch er zu sterben. Apollon forderte ihn auf, sich in seiner Trauer zu mäßigen, doch keine Worte wollten seinen Schmerz lindern. So erbittet Cyparissos schließlich von den Himmlischen als letzte Gabe, allezeit trauern zu dürfen. Schon hatte sein Blut sich in grenzenlosem Weinen verströmt; da wurden seine Glieder allmählich grün, und sein Haar, das ihm eben noch in die schneeweiße Stirn hing, begann ein struppiger Schopf zu werden, sich starr aufzurichten und mit schlankem Wipfel zum gestirnten Himmel aufzublicken. Da seufzte der Gott und sprach betrübt: ›Du wirst von mir betrauert werden, andere betrauern und den Trauernden beistehen. ‹« (Ovid, Metamorphosen, übertragen von Michael von Albrecht, Goldmann Verlag, S. 227).

Die Metamorphose des Cyparissos in eine Zypresse, Druck, Hieronymus Cock, 1565, © The Trustees of the British Museum

Nekropolen, die Weihestätten der Verstorbenen, wurden deshalb schon in der Antike mit Zypressen verziert und noch heute ist ein mediterraner Friedhof ohne Zypressen nicht vorstellbar. Sie sind ein Sinnbild für ein Weiterleben nach dem Tod und Symbol des ewigen Lebens. Zypressen pflanzte man zu Ehren der chthonischen Gottheiten. Pluto soll einen Thron und eine Krone aus Zypressenholz besitzen und mit Zypressenlaub als Opfergaben ehrte man ihn in Ritualen.

Den Bezug zur Unterwelt stellte Arnold Böcklin mit seinem Bild »Die Toteninsel« besonders eindrücklich dar. Er malte von diesem Meisterwerk an Düsterkeit zwischen 1880 und 1888 gleich fünf Versionen, von denen uns vier erhalten blieben. Die dritte Version hatte ein besonderes Schicksal, denn einige Jahre schmückte sie die Räume Hitlers, was ebenfalls durchaus passend für den düsteren und doch so faszinierenden Charakter des Bildes ist. Alles ist in diesem Bild von Trauer erfüllt – wir sehen eine weißgekleidete, gespenstergleiche Gestalt mit einem Sarkophag in einem Nachen, den ein Fährmann, wohl ist es Charon, über eine geisterhaft erstarrte See steuert. Das Ziel ist eine kleine Felseninsel in scheinbar endloser Weite. Inmitten der Insel sehen wir einen Zypressenhain. Alles erinnert an eine etruskische Nekropole mit den Nischen und Grabkammern und den Zypressen in einem verschwindenden Tageslicht. Das Bild ist pure Trauer und doch wirkt es nicht wirklich bedrückend, eher meditativ, entrückt, transzendent, fast als ob alles am Schweben ist.

Arnold Böcklin, Die Toteninsel (3. Version), 1883, Öl auf Holz, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: © bpk / Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Andres Kilger

Es ist eine sehr persönliche künstlerische Sicht auf den unvermeidlichen Tod, der Böcklin ständig begleitete. Er verlor acht seiner vierzehn Kinder, selbst erkrankte er an Typhus und er musste einen Schlaganfall bewältigen – der Hauch des Todes war ihm also wohl vertraut und in der dritten Version der Toteninsel malte er sogar seine Initialen in eine der Grabkammern. Im Malen dürfte er Trost gefunden haben und die nötige schöpferische Kraft für weitere seiner unvergleichlichen Bilder. Ein Bad hat er nicht gebraucht, denn der mitfühlende und erlösende Geist des Cyparissos offenbarte sich ihm mit jedem Pinselstrich. Neue Zeiten erfordern jedoch eine neue Form der Ästhetik – was bei Böcklin noch möglich schien, ist spätestens nach dem ersten Weltkrieg unmöglich geworden. Viele Künstler wandten sich der Abstraktion zu, gingen expressive Wege oder verweigerten sich der Kunst auf dadaistische Weise. Mit dem Surrealismus entwickelte sich aber auch eine Kunstform, mit der man die neuen Ideen der Psychologie und die alten Mythen verbinden konnte – besonders gilt dies für Max Ernst. Er suchte nach einem Formausdruck der freien Assoziation, die dem magischen Zufall Raum gibt. Er erfand Techniken wie die Frottage und Grattage und ab Ende der dreißiger Jahre, in den Zeiten des Exils, die Décalcomanie. Heraus kamen rätselhafte Bilderwelten und fantastische Landschaften, wobei er dem Betrachter immer den nötigen Freiraum zur spielerischen Assoziation überlässt, eine der Grundforderungen des Surrealismus. Dabei entsteht jedoch gleichzeitig die Möglichkeit einer Berührung auf einer subtilen Ebene, für den Künstler selbst, aber auch für den Betrachter.

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