Nur die heil- und zauberkräftigsten Pflanzen erhalten so ehrenvolle Namen wie die Erzengelwurz, die in den alten Kräuterbüchern »edle Angelika« oder »Heiliggeistwurz « heißt. Ihr botanischer Name Angelica archangelica beinhaltet gleich zwei Mal den Engel (latein. angelus)! Himmlischen Ursprungs sollen auch ihre vortrefflichen Heilkräfte sein. Jakobus Tabernaemontanus, einem der Väter der Kräuterheilkunde, schien es noch »als wenn der Heilige Geist selber oder die lieben Engel dem menschlichen Geschlechte diese heilsame Wurzel geoffenbart hätten«. Einer Sage zufolge soll der Erzengel Raphael höchstpersönlich einen kranken Einsiedler auf diese Heilpflanze aufmerksam gemacht haben (vergleiche Marzell: Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen, Seite 373). In Wahrheit ist sie ein Schutzengel in Pflanzengestalt!
Die Erzengelwurz kann bis zu drei Meter hoch werden und einen armdicken Stängel mit prächtigen Kugeldolden bilden. Die bei uns heimische Waldengelwurz (Angelica silvestris) steht ihr mit knapp zwei Metern kaum nach. Kurz vor der Blüte, wenn diese noch in den Hüllblättern stecken, erinnert das edle Gewächs manchmal in seiner Gestik an eine Madonna. Im Zwielicht der Dämmerung verwandelt sich die Pflanze mit den hell schimmernden Blütendolden in eine mit dem Wind tanzende Waldnymphe. Wo wir sie antreffen, dort finden wir unser inneres Licht. An solchen Plätzen spielen vor Sonnenauf- und nach Sonnenuntergang freundliche Naturwesen.
Begleiten wir den Erzengel unter den Heilpflanzen zurück zu seinen Ursprüngen. In Island erhebt sich ein sagenumwobener Tafelvulkan. Die Einheimischen nennen ihn »Königin aller Berge« und die Mythenforscher halten ihn für die germanische Götterburg Asgard. Vielleicht wurde die Angelika einst aus den fruchtbaren Lavafeldern am Fuß dieses Götterthrones geboren. In ihrer Heimat glüht die Sonne zur Sonnenwende noch um Mitternacht, und eben dieses Licht trägt sie in sich. Kein Wunder, dass der Volksmund sie auch »Angstwurz« nennt – mit ihr als Helferpflanze braucht man die Dunkelheit jedenfalls nicht mehr zu fürchten.
Die Alten kannten die schutzmagischen Kräfte dieses Erzengels unter den Heilpflanzen: »Sie verjagt alle Hexen, Druden, Geister und Kobolde, hilft gegen den Hexenschuss (Ulcera magica), und wer sie bei sich trägt, ist vor allen bösen Einflüssen gesichert« (siehe Ritter von Perger: Deutsche Pflanzensagen, Seite 139). Diese Sonnenpflanze behütet also vor Dämonen der Finsternis, durchlichtet den Geist und reinigt die Aura (z. B. Ceres Archangelika Urtinktur). Wer sich vor der Schattenwelt der Nacht fürchtet, sollte diese Botin des Lichts bei sich tragen. Wenige Samen in der Tasche, ein kleines Stück der Wurzel als Amulett, einige Tropfen des ätherischen Öls vor der Nase und vor allem die unmittelbare Nähe dieser Pflanze strahlen Geborgenheit aus. Zusammen mit der »Mondwurz« (Baldrian) ergibt sie auch einen bewährten Schlaftrunk, der die Alben und Nachtmahre ihrer dunklen Mächte beraubt (siehe Rezept).
Rezept: Lichtblick in der Nacht
Angst vor der Dunkelheit, Albträume oder Schlaflosigkeit infolge von düsteren Gedanken sind das Wirkungsgebiet dieses Schlaftrunkes. Je einen Teelöffel Baldrianwurzel und Erzengelwurz mischen und mit 250 ml kaltem Wasser übergießen.
Ein bis zwei Stunden sollte der Kaltansatz ziehen, dann kurz zum Sieden bringen, abseihen und vor dem Schlafengehen trinken. Beide Lichtpflanzen besänftigen das Gemüt und beschützen unsere traumwandelnde Seele in der Nacht.
Erzengelwurz im Kräuterbuch des Hieronymus Bock, 1577
Die allesheilenden Sonnenkräfte
Worin liegen ihre weitreichenden Heilkräfte begründet? Die Erzengelwurz scheint ihre Kraft direkt von der Sonne zu beziehen. Mit ihrer erhellenden und erwärmenden Wirkung steht sie ebenbürtig neben dem Johanniskraut. Wie das Johanniskraut so enthält auch die Angelika Lichtwirkstoffe. In der Engelwurz finden sich rund 20 verschiedene Furanocumarine, welche bei Hautkontakt oder bei hochdosierter Dauereinnahme im Zusammenspiel mit Sonnenlicht phototoxische Hautreaktionen hervorrufen können.
In der gelben Johanniskrautblüte erkennen wir das Sonnenhafte auf den ersten Blick. In der Engelwurz manifestiert es sich in der Lichtgestalt der Pflanze, in ihrem gelblichen Pflanzensaft sowie in ihrem Geschmack. Nimmt man ein Stück Wurzel in den Mund, dann schmeckt dieses zuerst bitter-aromatisch und etwas erdig. Erst nach einigen Augenblicken entfaltet sich ein mildes, aber nachhaltiges Brennen auf der Zunge, das in ein Taubheitsgefühl übergehen kann. Dieser brennend-feurige Geschmack zeigt die erwärmenden Kräfte an.
Ziehen wir die getrocknete und zerkleinerte Wurzel (aus Apotheke oder Kräuterladen) etwa sechs Wochen lang in einem 50- bis 60-prozentigen Alkohol-Wasser-Gemisch aus, so erhalten wir ein vielseitig verwendbares Sonnenelixier. Das Feuer der Mitternachtssonne ist sozusagen in die Flasche gebannt. Diese Tropfen haben ein breites Wirkungsspektrum, denn wir haben es mit einer allesheilenden Sonnenpflanze zu tun. Wenn man in zwei Begriffen zusammenfassen will, welche Kräfte in diesem bemerkenswerten Doldenblütler wirken, dann sind dies Durchlichtung und Lebenswärme.
Die Verdauung anfeuern
Zum Lebensabend hin erkaltet der Mensch auf ähnliche Weise, wie auch das Sonnenfeuer im Herbst seine Kraft verliert. Der Alterungsprozess beginnt meist in der Magenschleimhaut, die bei älteren Menschen immer weniger Verdauungssäfte produziert. Aus diesem Grund verwertet man die zugeführte Nahrung mit zunehmendem Alter immer schlechter und verliert in der Folge an Lebenskraft. Eben weil Angelika den Magen erwärmt und die Verdauungssäfte ins Fließen bringt, heißt sie »Heiligenbitter « oder »Magenwurz« und findet sich in verdauungsfördernden Lebenselixieren (z. B. Schwedentrunk Elixier von Infirmarius).
Solche »Magenbitter« helfen aber nicht nur alten Leuten. Wir erinnern uns an ein mehrstündiges und äußerst opulentes Weihnachtsmahl, das wir nur genießen und unbeschadet überstehen konnten, weil Freunde uns das »Afra Elixier« von der Augsburger Hofapotheke geschenkt hatten. Die Kräutertropfen enthalten unter anderem Erzengelwurz. Als wir schon fast geplatzt waren, erinnerten wir uns an das Elixier und genehmigten uns zwischen den Gängen ein Likörgläschen. Dieses schaffte sofort wieder Platz für Nachschub – dieser Tipp richtet sich speziell an die genussfreudigen Leser, die im Zeichen des Stiers geboren sind.
Wurzel der Erzengelwurz, die man häufig in Verdauungselixieren findet. Foto Olaf Rippe
Schutz vor Pestilenz
Die Erzengelwurz feuert aber nicht nur die Verdauung an, sondern auch das Immunsystem. Schon Paracelsus bemerkte: »Ihr Saft ist die höchste Arznei gegen innere Infektionen durch die Luft und ein Schutzmittel gegen die Pest.« Während der Pest züge trugen manche Ärzte stets ein Stück der Wurzel bei sich und kauten daran, wenn sie Kranke besuchten.
Aus Pestzeiten soll auch die Überlieferung eines Volksheilmittels stammen, das sich »Essig der vier Räuber« nennt. Die dazugehörige Geschichte besagt, dass einst vier Räuber durch das von der Seuche leer gefegte Land zogen und unbeschadet die Häuser von Pestopfern ausraubten. Als die vier endlich gefasst waren, gestanden sie ihr Geheimnis. Mit Hilfe eines speziell zubereiteten Kräuteressigs, der unter anderem Angelikawurz enthielt, hatten sich die vier Räuber vor der Ansteckung mit Pestbazillen geschützt.
In der Angelika finden sich tatsächlich antimikrobielle Pflanzeninhaltsstoffe. Die Pflanze schützt sich nämlich selbst durch ihre Inhaltsstoffe (z. B. ätherische Öle und Gerbstoffe) vor Fäulnisbakterien und Schimmelpilzen. Glücklicherweise schützen ihre Wirkstoffe auch uns vor Krankheitskeimen. Ob die Engelwurz nun tatsächlich vor der Pest bewahrt, sei dahingestellt. Mit dem Begriff »Pestilenz« war früher ohnehin jede durch die Luft übertragene Infektion gemeint. Den Beinamen »Cholerawurzel « hat sie sicherlich nicht umsonst erhalten und als »Brustwurz«, so einer ihrer vielen weiteren Namen, hemmt sie das Wachstum von Hustenerregern und wirkt außerdem der Verschleimung der Bronchien entgegen.
Ein Kraut gegen Tod und Teufel
Der Volksmund behauptet nicht ganz zu Unrecht, dass gegen jedes Leid ein Kraut gewachsen sei. Zwar hilft noch keines gegen den Tod, aber mit einem solchen Schutzengel wie der Erzengelwurz können wir den Sensenmann zumindest auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten. Sie ist nämlich traditioneller Bestandteil mehrerer lebensverlängernder Elixiere und heißt daher »Theriakwurz«. Neben Schlangenteilen war die Angelika der wohl wichtigste Bestandteil des »Theriak«. Auch der »Klosterfrau Melissengeist« hätte es ohne diese Wurzel kaum zu seinem Ruhm gebracht. Seit bald vierhundert Jahren hat sich das aus mehreren Sonnenpflanzen hergestellte Destillat bewährt und gehört zur Grundausstattung jeder Haus- und Reiseapotheke. Egal ob Kreislaufbeschwerden, Nervosität, krampfartige Bauch- oder Regelbeschwerden, leichte Kopf- oder Zahnschmerzen – Melissengeist lindert alle möglichen Beschwerden! An besonders turbulenten Tagen kann man einen Teelöffel davon in einem Glas Wasser verdünnt als stresswidriges Mittel nutzen. Das entspannt die Nerven und wirkt in der rechten Dosis gebraucht sogar leicht beschwingend. Man sollte nur aufpassen, dass dies nicht zur Gewohnheit wird, denn es gibt vor allem viele ältere Damen, die sich mit Melissengeist regelmäßig bei Laune halten und diesem Lebenselixier gegenüber ein gewisses Suchtverhalten entwickeln.
Die Heilkraft dieser edlen Sonnenheilpflanze scheint beinah unerschöpflich.Selbst bei Lymphknotenschwellungen, Eierstockszysten, Frigidität oder Unfruchtbarkeit von Frau und Mann kann das engelhafte Gewächs Beistand leisten. Dennoch wollen wir nur noch auf eines hinweisen: Der Volksmund kennt die Angelika schließlich noch als »Giftwurz«. Bergarbeiter verwendeten die Wurzel schon vor Jahrhunderten, um gegen den vergiftungsbedingten Kräftezerfall anzukämpfen. Ihre durch und durch reinigende Wirkung macht sie bei der schleichenden Vergiftung durch Zahnamalgam heute noch unentbehrlich.
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