“Man sieht nur mit dem Herzen gut, das
Wesentliche bleibt dem Auge verborgen.”
Antoine de Saint-Exupéry
Das Herz – Maschine oder Heimat der Seele?
Einige Jahre, nachdem der englische Arzt William Harvey 1616 den Blutkreislauf entdeckte, meinte René Descartes, dass das Herz der Mechanik einer Uhr oder eines Springbrunnens gleichen würde. 1929, knapp 300 Jahre später, legte man den ersten Herzkatheter, 1958 setzte man den ersten Herzschrittmacher ein und 1967 folgte die erste Herztransplantation. Doch was war das Herz, bevor die Wissenschaftler der Renaissance ihr mechanistisches Weltbild formulierten und damit die Triumphe der Chirurgie einläuteten?
Jahrtausende lang glaubte der Mensch an einen beseelten Leib, dessen geistiges Zentrum das Herz war. Im Totenkult unserer Vorfahren bestattete man das Herz häufig auf besondere Weise in eigenen Gefäßen, da man es als Träger magischer Seelenkräfte verstand und an dessen Unsterblichkeit glaubte. “Die Ägypter waren davon überzeugt, dass im Herzen des Menschen sein Gewissen wohnt. Deshalb wird beim Totengericht der Verstorbene vor die Seelenwaage geführt. Hier wird sein Herz von Anubis und Horus gegen das Symbol der Wahrheit – das ist die hockende Göttin Maat mit Federkrone – gewogen. Der Schreibergott Thot vermerkt das Ergebnis auf einer Rolle, vor ihm sitzt der Totenfresser, ein Mischwesen, der das Herz frisst, falls es als zu leicht befunden wird” (M. Reich-Ranicki). Noch Hildegard von Bingen sprach vom Herzen als Heimat der Seele (“domus animae”). Sie glaubte, dass vom Herzen unsere Gedanken ausgehen, die im Gehirn auf seltsame Weise umgeformt werden. Ähnliches vermutete Paracelsus: “Wisset nun ferner vom Sitz und der Stätte der Seele, dass sie im Herzen sitzt, mitten im Menschen.”
Das Herz auf der Seelenwaage; Ägyptisches Totenbuch
Hätte man niemals an dieser Weltsicht gezweifelt, es wäre sicher zu keiner Herztransplantation gekommen. Nur weil man es wagte, das Tabu der Totenruhe zu brechen und weil man die Seele aus dem Körper verbannte, konnte ein Leonardo da Vinci seine anatomischen Studien durchführen und nur solche Studien machten die Entdeckungen Harveys möglich. Doch etwas sollte einen vielleicht nachdenklich stimmen: Heute stirbt in den Industrieländern jeder Zweite an Herz-Kreislaufkrankheiten, dies ist aber erst seit einigen Generationen der Fall und unter “Naturvölkern” ziemlich selten. Ist es nicht verwunderlich, dass, je mehr man dem Herzen die Seele raubte, es umso häufiger erkrankte? In einer entzauberten und technokratisierten Welt, in der das Herz ein austauschbares, seelenloses Ding ist, kann es nur zu Stein erstarren. Doch “die Seele ist ein Feuerauge, oder ein Feuerspiegel, darin sich die Gottheit hat geoffenbaret (…). Sie ist ein hungrig Feuer und muss Wesenheit haben, sonst wird sie ein hungrig finster Tal” (J. Böhme, zit. n. A. Roob).
Die Beziehung von Makro- und Mikrokosmos
Im ausgehenden Mittelalter war der Mensch noch kein Ding, sondern ein Abbild des Kosmos. Das Herz war nicht bloß ein Organ, sondern vom kosmischen Licht der Sonne beseelt. Selbst die Entdeckung astronomischer Gesetzmäßigkeiten konnte dieses Weltbild zunächst nicht erschüttern. 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus seine Vorstellungen über das heliozentrische Weltbild. Die Sonne als Zentrum der Planeten kannte man in der hermetischen Astrologie allerdings schon lange vorher. Die göttliche Ordnung der kosmischen Kräfte wie sie auch Kopernikus geläufig war, nennt man chaldäische Reihe. Sie beginnt mit dem Mond, der von der Erde aus gesehen am schnellsten durch den Tierkreis läuft und endet mit Saturn, dem entferntesten der damals bekannten Wandelplaneten. Die Sonne nimmt dabei die goldene Mitte ein: Erde – MOND – Merkur – Venus – SONNE – Mars – Jupiter – SATURN.
Als Renaissance-Mensch und Astronom abstrahierte Kopernikus diese Weltsicht. Er verließ in Gedanken die Erdenmutter, von der aus man bis dahin die Welt betrachtet hatte und schaute in das Universum wie es bisher nur Gott vorbehalten war. Doch er war ebenfalls Astrologe und Anhänger der kabbalistischen Wissenschaft, und als solcher vertrat auch er die Idee einer höchsten Intelligenz, die den Lauf der Gestirne lenkt. Diese Kraft und die Sonne sind in der hermetischen Astrologie miteinander identisch. Kopernikus schrieb hierzu: “In der Mitte aber von allem steht die Sonne. Denn wer wollte diese Leuchte in diesem wunderschönen Tempel an einem anderen oder besseren Ort setzen als dorthin, von wo aus sie das Ganze zugleich beleuchten kann? Zumal einige sie nicht unpassend das Licht, andere die Seele, noch andere den Lenker der Welt nennen. Trismegistos bezeichnet sie als den sichtbaren Gott, die Elektra des Sophokles als den Allessehenden. So lenkt in der Tat die Sonne, auf dem königlichen Thron sitzend, die sie umkreisende Familie der Gestirne.” (zit. n. Bauer/Dümotz/Golowin, Lexikon der Symbole).
Das Hexagramm der Planeten mit der Sonne als Mittelpunkt.
Ausschnitt aus dem Titelkupfer “Opus medicochymicum”, 1618, von Johann Daniel Mylius.
Nach hermetischer Vorstellung ist der Himmel, der Makrokosmos, nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut wie die Erde, der Mikrokosmos, wobei der Mensch mit der Erde identisch ist. Wenn es also am Himmel ein energetisches Zentrum gibt, die Sonne, dann muss es dies auch auf der Erde und damit im Menschen geben. Paracelsus schrieb hierzu: “Das Herz ist die Sonne, und wie die Sonne auf die Erde und sich selbst wirkt, also wirkt auch das Herz auf den Leib und sich selbst. Und ist dieser Schein auch nicht der der Sonne, so ist er doch der Schein des Leibes, denn der Leib muss an dem Herzen Sonne genug haben. (…) Alles, was im Menschen ist, hat sein Leben durch die Sterne und durch die Sonne lebt das Herz der großen Welt, es lebt auch das Herz der kleinen Welt.”
Der Mensch als Abbild des Kosmos
Der englische Alchimist Robert Fludd veröffentlichte in seinen Schriften 1619 eine Abbildung, die den Menschen als ideales Abbild des Kosmos zeigt. Wir sehen einen Menschen, der von einem Kreis umgeben ist, dessen Mittelpunkt im Geschlecht liegt. Der Kreis mit einem Punkt in der Mitte ist das astrologische Symbol der Sonne. Im oberen Teil ist der Kreis hell, im unteren dunkel. Der Mensch ist durch eine vertikale und eine horizontale Linie in vier Abschnitte geteilt. Der Kreis mit einem Kreuz ist ein uraltes Symbol für die Harmonie von Geist und Materie und für den Lauf der Sonne durch den Tierkreis; man findet es bereits als steinzeitliche Felszeichnung. Durch die zwei Tagundnachtgleichen ist das Jahr in eine dunkle und eine helle Zeit geteilt, durch die zwei Sonnenwenden entstehen vier gleiche Abschnitte, die vier Jahreszeiten. Das Ganze bildet auch eine Analogie zum Horoskop. Dieses ist ebenfalls in vier Abschnitte unterteilt, den Lebensaltern. Der Kreis symbolisiert die Sternzeichen, der Mittelpunkt ist die Erde auf der wir stehen, er ist gleichzeitig der Mensch wie er in den Kosmos schaut. Das Sternzeichen, das zum Zeitpunkt der Geburt im Osten aufgeht, bildet den Aszendenten, die schöpferische Ausdrucksfähigkeit des Menschen, dargestellt durch die rechte Hand, die in das Dunkel greift.
Der Mensch als Mikrokosmos. Robert Fludd,
“Utrisque Cosmi”, Band II, Oppenheim, 1619.
Ebenfalls von Bedeutung ist der oberste, nördlichste Punkt, der Medium Coeli, der im Horoskop die Berufung anzeigt. Dieser Punkt wird von einem leuchtenden Strahlenkranz berührt, in dem der geheime kabbalistische Name Gottes “iod-he-vau-he” geschrieben steht. Dies ist “ein heiliges Wort, das dem Sterblichen (…) den Schlüssel zu allen göttlichen und menschlichen Wissenschaften gibt” (Papus, Tarot der Zigeuner). “Iod” ist der geistige Ursprung der Schöpfung. Das erste “he” ist die Dualität oder der Raum. “Vau” ist die dialektische Beziehung von Geist und Materie; das Göttliche ist also in Wahrheit eine Trinität. Das zweite “he” ist der Übergang von der metaphysischen in die physische Welt, der Mensch als Abbild des Kosmos.
Die vier Buchstaben deuten auch auf die vier Elementarkräfte Feuer, Wasser, Luft und Erde hin. Diese bilden die geistige Grundlage des Lebens; ihr Ursprung ist etwas Fünftes, die Quintessenz (hier: die Strahlenkrone). Im Menschen bilden diese vier Kräfte vier geistartige Leiber aus. In unserem Bild sind dies einerseits die vier Kreise um das Geschlecht als Mittelpunkt, andererseits die vier kleinen Kreise im oberen Körperbereich, die nur zur Hälfte angedeutet sind.
Im Innersten finden wir als einzig sichtbaren, den physischen Lieb. Dieser korrespondiert mit der Mineralwelt und dem Element Erde; seine Qualitäten sind zusammenziehend, verhärtend und kalt. Der Zweite ist der Lebensleib, er umschließt den Bauchraum. Seine unsichtbare Aufgabe ist die Erhaltung der Vitalität. Er korrespondiert mit der Pflanzenwelt und dem Element Wasser. Die Qualitäten sind formgebend und ebenfalls kalt. Der Astralleib bildet den dritten Körper, der mit unserer animalischen Gefühlsnatur verbunden ist und den man dem Element Luft zuordnet. Er umschließt den Brustraum und seine Qualitäten sind Expansion und Wärme. Der vierte Körper, der den Kopfbereich umfasst, ist der vernunftbegabte, mentale Leib, der nur dem Menschen eigen ist. Man ordnet ihn dem Element Feuer zu und seine Qualitäten sind Strahlung und Wärme. Es ergibt sich somit eine Polarität. Auf der einen Seite sind dies die kalten Elemente Erde und Wasser, auf der anderen die warmen Elemente Luft und Feuer.
Es gibt aber auch etwas Drittes, den Übergang zwischen Wärme und Kälte, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der Quintessenz hat. Diese Brücke ist in unserem Bild die Sonnenbahn des Herzens. Diese Bahn ist bewusst so gezeichnet, dass sie nicht nur im Herzbereich liegt, sondern auch das Zwerchfell umfasst, das den Thorax in Oben und Unten teilt. Der Punkt, in dem sich die polaren Prinzipien treffen, ist die Verbindung zweier Kreise, die im lichten oberen Körperbereich eine Acht bilden. In der chinesischen Medizin ist dies der Akupunkturpunkt “Konzeptionsgefäß 17” (KG 17), der Meisterpunkt der Himmelsenergie oder des Chi. Er befindet sich in der Mitte des Brustbeins.
Im übertragenen Sinne inkarniert an diesem Punkt die unsterbliche Seele und verbindet sich mit dem Körper. Nur weil die Seele bei der Geburt in die Dunkelheit hinabsteigt, ordnet sich die Materie nach kosmischen Vorbild an. Jeder Atemzug und jeder Herzschlag ist eine Erinnerung an die Polarität von Geburt und Tod, Wärme und Kälte.
Die Verwandlung der Seele durch die Erkenntnis Gottes.
Jacob Böhme, “Theosophische Wercke”, 1682.
Rhythmus als Träger des Lebendigen
Eine Gemeinsamkeit der Brustorgane Herz und Lunge ist das Rhythmische. Einatmen und Ausatmen der Lunge gleichen Diastole und Systole des Herzens. Um das Wesen des Rhythmischen zu begreifen, muss man sich nur die Abwesenheit vorstellen. Das Ergebnis ist wiederum eine Polarität. Auf der einen Seite wäre dies der Takt, die immer gleichbleibende, sich wiederholende Bewegung, auf der anderen Seite das chaotische Zufallsprinzip, die Arrhythmie. Der Takt zeigt ein Überwiegen von Kälte, das Arrhythmische dagegen ein Überwiegen von Wärme. Das Wesen des Rhythmischen ist jedoch die Neigung zum Ausgleich, der fließende Wechsel zwischen Wärme und Kälte, Ausdehnung und Zusammenziehung, je nach physiologischer Notwendigkeit. Der Rhythmus bildet also wie die Sonne, die goldene Mitte, er ist die vollendete Harmonie.
Wie Rudolf Steiner formulierte, trägt der Rhythmus das Leben. Krankheitsprozesse sind immer disharmonisch, sie sind entweder ein dauerhaftes Überwiegen von Zusammenziehung und Kälte (Erde – Wasser) oder von Auflösung und Wärme (Luft – Feuer). Typische Beispiele für das Überwiegen von Kälte sind Sklerose, Hypotonie und Neurasthenie. Hypertonie, Hysterie und Entzündung haben dagegen einen hitzigen Charakter.
Denkt man länger darüber nach, stellt man überrascht fest, dass das Rhythmische eigentlich nicht erkranken kann, es kann höchstens seiner kompensierenden Funktion nicht mehr gerecht werden. Dies ist allerdings immer ein lebensbedrohlicher Zustand. Das Rhythmische Prinzip hat aber nicht nur eine physiologische Bedeutung, sondern auch eine geistige, zahlreiche Göttermythen und Heldensagen, die mit der Sonnenkraft in Beziehung stehen, zeugen davon.
In der germanischen Mythologie der Weltenentstehung gab es am Anfang Kälte und Dunkelheit im Norden, Hitze und Helligkeit im Süden. Feuer und Eis bilden die ursprüngliche Polarität des Lebens. Heiße Winde schmolzen das Eis und die fallenden Tropfen wurden lebendig durch die Kraft, die das Feuer sandte. Das Leben wurde also nur durch die harmonische Mischung der Gegensätze möglich. So entstand der Riese Ymir, der zugleich männlich (warm) und weiblich (kalt) war.
Bei dem römischen Dichter Ovid lesen wir, wie Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Helios, einst seinem Vater den Sonnenwagen raubte, der von vier (!) Pferden gezogen wurde. Die Pferde symbolisieren die Elemente und Himmelsrichtungen, der Wagen dagegen die Quintessenz, das fünfte Element. Jung und unbe”sonne”n wie er war, beherrschte Phaeton die wilde Natur der Himmelsrosse nicht. Einmal fuhr er zu hoch am Himmel und das Leben auf der Erde erfror, das andere Mal fuhr er zu tief und verbrannte die ganze Natur. Zeus war darüber so erbost, dass er den Jüngling kurzerhand tötete.
Ein anderer Mythos erzählt von der Flucht des Ikarus aus dem Labyrinth, in dem man den menschenfressenden Minotaurus gefangen hielt. Da ein normales Entrinnen unmöglich war, bastelte der einfallsreiche Vater Daidalos ihnen Flügel aus Federn und Wachs. Besorgt, schärfte er seinem Sohn ein, weder zu hoch, noch zu tief zu fliegen, da sonst entweder die Sonne das Wachs schmelzen oder das Wasser die Flügel zu schwer machen würde. Doch als Ikaros seine Be”geist”erung nicht mehr zügeln konnte und zu hoch flog, da schmolz das Wachs, so dass er ins Meer stürzte und starb.
Die drei ausgewählten Geschichten offenbaren das Geheimnis des rhythmischen Prinzips, das ist das richtige Maß oder die richtige Mischung. Dies war ebenfalls eine der Botschaften des griechischen Lichtgottes Apollon, den man wie Helios mit der Sonne assoziierte: “Alles mit Maß, nichts im Unmaß.”
Phaeton, der Sohn des Helios, wie er verzweifelt versucht, den Wagen seines Vaters zu beherrschen. Im Hintergrund sieht man das Sternzeichen Löwe, das man der Sonne zuordnet.
Gustave Moreau, 1878.
Erkenne Dich selbst
Auf den Toren zu den Tempeln des Lichtgottes Apollon in Delphi standen die Worte: “Erkenne dich selbst”, denn das Erkennen bewirkt das richtige Maß, die Mäßigung das Erkennen. Auf der Suche nach Erkenntnis vollbrachte Herakles zwölf Heldentaten, die ihn in andere Welten führten und mit wilden Fabelwesen kämpfen ließen. Der Mythos ist nichts anderes als der Weg der Sonne durch den Jahreskreis. Er symbolisiert jedoch auch den Menschen als solchen, der in verschiedenen Inkarnationen die Qualitäten der einzelnen Sternzeichen durchlebt, um seine Einmaligkeit von ganzem Herzen zu begreifen.
Es ist daher auch kein Zufall, dass Jesus zwölf Jünger hatte und nicht elf oder fünfzehn. Sie sind die Sternzeichen, und Jesus ist als Dreizehnter die Sonne, beziehungsweise der erwachte Mensch. Die mythologischen Überlieferungen des Abendlandes sind geprägt von der Idee des erwachten Individuums und seiner Suche nach einer Harmonie mit dem Göttlichen. Der Held abendländischer Mythen folgt dabei der Stimme seines Herzens. Der Gralsmythos ist hierfür ein Beispiel.
Am Hof von König Artus erschienen den zwölf (!) Rittern der Tafelrunde einst Engel mit einem verschleierten Kelch, dem goldenen Gral. Aber die Götterboten verschwanden wieder und hinterließen nicht nur verdutzte, sondern auch völlig verzückte Ritter. Sie waren sich sofort einig, nach diesem wundervollen Kelch zu suchen, um ihn ohne Schleier in seiner ganzen Wahrheit zu sehen. Allerdings sollte dies jeder für sich versuchen. Die Ritter begaben sich also jeder allein an eine andere Stelle des dunklen Waldes, der sie umgab. Kein Pfad sollte ihnen zeigen, wohin die Reise gehen würde. Nur so konnten sie ihrem Anspruch gerecht werden, ein Abenteuer zu erleben, wie es zuvor noch kein Mensch durchlebt hatte. Bestehen konnte dieses Abenteuer aber nur derjenige, der der Stimme seines Herzens gehorchte, allen anderen blieb der Gral versagt. Der Mythologe Joseph Campbell vergleicht den Gral mit einem unerschöpflichen Füllhorn göttlicher Lebenskraft. Der Kelch ist die Quelle im Zentrum des Universums, aus dem die ewigen Energien in die zeitliche Welt strömen. Aus dem Gral zu trinken, heißt die Wahrheit zu trinken, die jeder in seinem Herzen trägt.
Gold auf Quarz mit Magnetit
Das Sonnenmetall Gold
Da in der hermetischen Entsprechungslehre Gold und Sonne miteinander identisch sind, konnte der Gral nur aus diesem Metall bestehen. Gold ist der König unter der Metallen. Schon der Name des Sonnenmetalls zeugt von einer besonderen Verehrung: “Aurum metallicum” (= Gold) heißt “Metall des Lichts” (Aur = Licht) und heilige Worte wie Aura, Aum oder Amen leiten sich davon ab. In der Kabbala ist das Wort “Aur” ein Synonym für den Geist Gottes.
Von allen Metallen reflektiert Gold im natürlichen Zustand Licht am stärksten. Es kommt, im Gegensatz zu den anderen Metallen, fast nur gediegen vor. Wie ein König duldet es keine Vermischung mit unedleren Stoffen. Auch seine Beständigkeit ist einmalig. Während archäologische Funde aus anderen Metallen längst vom Zahn der Zeit gezeichnet sind, erstrahlt selbst Jahrtausende alter Goldschmuck wie zum Zeitpunkt seiner Herstellung. Auch ist kein anderes Planetenmetall so geschmeidig und anpassungsfähig. Gold gehört zu den seltensten Stoffen der Erde, obwohl es nahezu überall in Spuren vorkommt. Seine weite Verbreitung in Gesteinen, Meerwasser, Atmosphäre und im Organischen, macht es aus hermetischer Sicht zum stofflichen Träger (Matrix) göttlicher Bewusstseinskräfte. Gold ist natürlich auch ein Spurenelement, besonders goldhaltig sind Leber, Gehirn und Milz. Es fördert unter anderem die Anreicherung der Blutzellen mit Sauerstoff und koordiniert die Leistungen von Nervensystem und Abwehr.
Gold ist beseelt vom Geist der Sonne. Es wundert von daher nicht, wenn Paracelsus der Meinung war, dass das Sonnenmetall gegen alle Krankheiten wirken kann, die durch die anderen Planeten verursacht werden: “Wir können auch verstehen, dass die Quinta Essentia Auri wegen ihrer spezifischen Wirkung und wegen der Kraft, die sie dem Herzen verleiht, imstande ist, gegen alle Gestirne zu wirken” (Paracelsus).
In der Therapie haben sich vor allem mittlere Potenzen von Gold bewährt (“Aurum metallicum praeparatum” D12 von Weleda). Damit spricht man besonders das Rhythmische im Menschen an. Die Lichtkraft des Goldes bewirkt ein verbessertes dynamisches Fleißgleichgewicht und damit Gesundheit, führt also auf den goldenen Mittelweg zwischen Takt und Chaos. Auch fördert man mit Gold die Lebenskraft; traditionell ist es Bestandteil von Lebenselixieren. Vor allem aber bewirkt Gold eine größere seelische Gelassenheit sowie mehr Bewusstheit über das Selbst.
“Eine so große Kraft ist im Golde, dass es alles Kranke wieder herstellt. (…) Das Gold befeuert den Lebensgeist, kräftigt Herz und Geblüt und verleiht Größe und Stärke” (Paracelsus).
Das Gold als Sonnen-König der Metalle. La Sagesse des anciens, 18. Jh.
Danziger Goldwasser
Je ein Teelöffel Kardamomfrüchte, Korianderfrüchte und Sternanis, zusammen mit einer Handvoll Rosenblüten, einer Stange Zimt, fünf Gewürznelken, einigen Wacholderbeeren, einer Prise Macis, sowie einigen Zitronen- und Pomeranzenschalen, in 0,7 Liter Schnaps mit 170 g Zucker
ansetzen.Das Gemisch stellt man für sechs bis acht Wochen in die Sonne; täglich schütteln, anschließend abfiltrieren und umfüllen. Wer die Möglichkeit hat, kann das Ganze jetzt noch destillieren, wodurch sich die Heilkraft nochmals verstärkt.
Anschließend etwas Blattgold hinzufügen, das bei Zusatz von etwas Speisestärke sogar schwebt. Die Dosis variiert von einigen Tropfen bis zu einem Likörglas täglich.
Einige Goldarzneien für die Praxis
Schon der arabische Arzt Avicenna gebrauchte Gold als herzstärkende Arznei. Es führt dem Sonnenorgan vor allem Lebensenergie zu und wirkt ganz allgemein prophylaktisch als Schutz vor Krankheitszuständen, die im chronischen Verlauf das Herz angreifen würden. Paracelsus bemerkte hierzu: “Das Herz begehrt nichts anderes, nur seine Stärkung. Was für das Herz widerwärtig ist und womit es beladen wird, das soll genommen werden. Von selbst ist es zu schwach, was ihm täglich zustößt, zu widerstehen. Daher soll es durch Arznei gestärkt werden”. Zu den herzstärkenden Arzneien gehört zum Beispiel das “Danziger Goldwasser”, ein Lebenselixier mit sonnenhaften Gewürzkräutern und Goldflittern. Früher gab es das Elixier in jeder Apotheke. Heute ist es leider fast vergessen, doch man kann es sich sehr leicht selbst herstellen (siehe oben).
Ein weiteres Lebenselixier, das auf Paracelsus zurückgeht, ist “Aquavit” (Solunat 2) von der Firma Soluna. Es enthält Spuren von Goldchlorid. Dies gewinnt man, indem man Gold mit einem Gemisch aus Salzsäure und Salpetersäure, dem sogenannten Königswasser, in Lösung bringt. Max Amann beschreibt in dem Buch “Paracelsusmedizin” die Herstellung von trinkbarem Gold, dem “Aurum potabile”, nach den Angaben des Paracelsus: “Durch das Korrosivum (Königswasser) wird das Gold getötet und in die sulfurische Tetrachlorogoldsäure verwandelt. Diese Goldlösung wird jetzt in ein Lebenswasser (Aqua Vitae) gebracht, das man aus (…) Gewürzen und Kräutern, besonders Melisse, Vitriol, Honig und Weinstein in Branntwein herstellt und zehn Tage am Rückfluss gekocht hat. Die Mischung aus Goldsalz und Aquavit wird einen Monat lang am Rückfluss gekocht. Hierbei wird das Goldchlorid zum kolloidalen tiefroten Gold reduziert, das in Lösung bleibt.” Blutrot ist in der Alchimie die Farbe der Vollkommenheit, die Farbe des Lebens.
Alexander von Bernus, der Gründer der Firma Soluna, erweiterte die Rezeptur vor allem um Geist bewegende Substanzen mit einer tonisierenden und allgemein roborierenden Wirkung. Bestandteil ist beispielsweise die Engelwurz, ein bewährtes Carminativum. Über die Wirkung von Engelwurz als Berufs- und Verschreikraut – dies sind Pflanzen, die gegen Hexerei und Dämonen wirken -, schrieb der Kräuterkundige Tabernaemontanus: “Etliche Leute sind beredet (= verflucht) / wo sie diese Wurzel bey ihnen tragen / soll ihnen keine Zauberey oder böß Gespenst schaden mögen / und alle Fantaseyen und böse erschröckliche Träum und Nachtgespenst hinwegtreiben.”
Engelwurz ist oft Bestandteil von Lebenselixieren; hier Waldengelwurz
Um die psychotherapeutische Wirkung noch weiter zu verstärken, enthält “Aquavit” auch Johanniskraut, das man früher “Fuga daemonum” (Teufelsflucht) nannte. Paracelsus schrieb über diese wahrhaft sonnige Pflanze: “Es ist eine Universalmedizin für den ganzen Menschen. (…) Die Adern auf den Blättern sind ein Zeichen, dass Perforata alle Phantasmata im Menschen und auch außerhalb austreibt (Nervensignatur). Merket euch (…), dass Phantasmata eine Krankheit ohne Körper und Substanz ist. Nur im Geist wird ein anderer Geist geboren, von welchem der Mensch regiert wird. Wenn nun dieser Geist geboren wird, gibt er dem Menschen andere Gedanken, ein anderes Gebaren ganz wider die angeborene Natur und Sinnlichkeit. Gegen diese Krankheit sind nicht viele Arzneien von Gott bestimmt.”
Weitere Bestandteile von “Aquavit” sind Nervina wie Lavendel, Ysop und vor allem Melisse, denn sie “ist von allen Dingen, die die Erde hervorbringt, die beste Pflanze für das Herz” (Paracelsus). Besonders Doldenblütler wie Anis, Kümmel, Koriander und Meisterwurz sind weitere Pflichtbestandteile; sie sind unentbehrlich wegen ihrer Stoffwechsel aktivierenden Wirkung. Ferner sind enthalten: Kubeben, Galgant, Ingwer, Wacholder, Majoran, Pfeffer sowie die Bittermittel China und Tausendgüldenkraut, dem besten Arkanum für die Leber, wie Paracelsus meinte.
Tonika wie Rosmarin, Salbei, Ysop, Muskat- und Colanuss, schaffen eine wahrhaft königliche Arznei, die nicht nur bei Herzschwäche, Inappetenz, mangelnder Rekonvaleszenz und chronischer Müdigkeit wirkt, wie sich inzwischen bis Taiwan herumgesprochen hat. Vor kurzem bestellte ein Händler und Heiler aus dem fernen Land ein Muster bei Soluna, mit der Bitte, um eine kurze Wirkungsbeschreibung. Etwas in Erklärungsnot geraten, gab man als Indikation “Aphrodisiakum” an. Inzwischen hat der gleiche Kunde schon mehrmals einige Tausend Flaschen bestellt, was hoffentlich zukünftig die Schildkröten-, Schlangen- und Nashornbestände schonen wird.
Fast schon ein Universalmittel bei Herzleiden ist “Cordiak” (Solunat Nr. 5), von Soluna. Es enthält wie “Aquavit”, Goldchlorid sowie die Nervina Johanniskraut und Melisse. Weitere wichtige Bestandteile sind die Blüten, Blätter und Früchte von Weißdorn, der heute vielleicht beliebtesten Herzheilpflanze. Wie viele weitere Rosengewächse offenbart sie ihren gutmütigen Charakter durch eine harmonische Blattform und durch einen ästhetisch reizvollen Aufbau der Blüte. Die Fünfzahl der Blüte findet sich sehr häufig bei psychogen wirkenden Arzneipflanzen. Der weißrosa Farbton ist typisch für viele Herzpflanzen. Wir finden ihn beispielsweise auch beim ebenfalls enthaltenen Herzgespann, einer bewährten Heilpflanze bei psychosomatischen Herzkrankheiten mit Angstzuständen.
Mit dem blutrot blühenden Wiesenknopf enthält das Mittel ein weiteres Rosengewächs, das vor allem die Gefäße stärkt, während der Rosmarin Geist, Körper und Seele erfrischt. Dass auch die Rose selbst enthalten ist, verdankt sie wohl kaum ihrer Herzwirkung. Blüte und Blattform offenbaren die liebliche und entspannende Kraft der Venus, während Stängel und Dornen auf die Zähigkeit und Wehrhaftigkeit des Mars hinweisen. Die Harmonie der Gegensätze, die sich in der Rose, aber auch im Weißdorn offenbaren, fehlt dem Herzkranken sehr häufig. Nicht selten reiben ihn die Widersprüche zwischen den eigenen Sehnsüchten und den Anforderungen, die “liebe” Mitmenschen an ihn stellen, völlig auf.
So ist “Cordiak” nicht nur eine herzstärkende Arznei bei Herzschwäche, Altersherz und Blutdruckstörungen, sondern auch bei psychosomatischen Herzbeschwerden. Letztere gehen oft mit Schlafstörungen und Beklemmungsgefühlen einher. Der Betroffene hat das Gefühl, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein. Das Herz kann tagsüber vor lauter Stress nicht schnell genug schlagen, oft überschlägt es sich dabei oder setzt gleich einige Schläge lang aus, und abends findet es nicht die wohlverdiente Ruhe. Typisch ist dieser Zustand übrigens bei Opfern von Mobbing und nach schockierenden Verlusterlebnissen.
Für die Reflexzonentherapie bei Herzleiden liefert Weleda eine Goldsalbe mit Lavendel- und Rosenöl (“Aurum / Lavandula comp.” Ungt.). Am besten reibt man neben dem Brustbein und dem Herzbereich, auch noch den Bereich zwischen den Schulterblättern ein, die sogenannte “Inkarnationszone”. Eine Therapie am Rücken ist vor allem sinnvoll, wenn Vergangenes einen bedroht, während sich die Angst vor Zukünftigem vor allem im Brustbereich bemerkbar macht.
Wenn Depressionen das Licht des Herzens verdunkeln, dann empfiehlt sich das Goldpräparat “Sanguisol” (Solunat Nr. 17) von Soluna. Neben den Bestandteilen von “Cordiak” enthält es zusätzlich Safran. Eine Tinktur aus dem Gold unter den Gewürzen ist blutrot. Die gleiche Farbe zeigt sich auch im Gold, in den Blüten des Wiesenknopfs, den Früchten des Weißdorns und im Johanniskraut; daher auch der Name des Präparats (sanguis = Blut, sol = Sonne).
Paracelsus meinte über Safran: “Davon einen Tropfen in Vinum Vitae, und dies ist die höchste Freude des Herzens für Alte, Kranke, Melancholische und Schwermütige.” Safran hat sämtliche Eigenschaften der Sonne. Richtig dosiert, erwärmt es die Seele und macht “fröhlich und gut Geblüt” (Lonicerus). Überdosierungen sind dagegen giftig und mancher soll sich dabei schon totgelacht haben.”
Safran – das Gold unter den Gewürzen
Zum Abschluss soll mit “Aurum comp.” von Wala (Glob., Amp., Ungt.) noch ein Mittel erwähnt werden, dessen Zusammensetzung vielleicht zunächst etwas skurril anmutet. Es besteht aus Gold, Weihrauch und Myrrhe (Weleda liefert ein ähnliches Präparat unter der Bezeichnung “Myrrha comp.”, beziehungsweise “Olibanum comp.”).
Es handelt sich dabei keineswegs um einen Weihnachtsscherz. Das Mittel eignet sich zur Behandlung von Stressfolgen mit Herzbeteiligung. Eigentlich wurde es aber zur Therapie von Kindern mit geistigen und körperlichen Entwicklung sowie Kontaktstörungen entwickelt. Die Indikationen werden verständlich, wenn man über die Symbolik der Rezeptur nachdenkt.
Die drei Gaben der Magier aus dem Orient an den neugeborenen Jesus sollen seine göttliche Herkunft unterstreichen. Es ist kein Zufall, dass die Geburt zur Wintersonnenwende stattfand, dem kürzesten Tag des Jahres, an dem gleichzeitig jedes Jahr die Sonne neu geboren wird. Weihrauch wird noch heute als kultisches Räucherwerk genutzt, um eine Verbindung zur Welt des Astralen herzustellen; gleichzeitig ist es eine Dankesgabe an das Göttliche. Mit Myrrhe salbte man früher Gottkönige. Gold symbolisiert das stoffgewordene göttliche Licht, von dem jeder etwas in sich trägt, wir nennen es das ICH. Nicht ohne Grund kamen die drei Magier aus dem Orient. In Sonnenkulten betet man nach Osten und am Lauf der Sonne soll sich der Mensch “orient”-ieren, denn:
“Als ein Kind der Sonne gilt der edle und königliche Mensch, geziert mit einer Strahlenkrone der Weisheit, einer Sonnenscheibe der Weltherrschaft und dem goldenen Schwert der Gerechtigkeit, weise, sanftmütig, großmütig und beherzt” (Basilius Valentinus).
Der erwachte Mensch als Sonnenkönig.
William Blake, 1816.
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